Rotburg 1995 – Band I: Den Lebenden

Status: Cooking…

Vorwort

Ich habe lange geglaubt, ich sei verrückt.

Nicht im medizinischen Sinn – das wäre zu einfach gewesen.

Sondern anders. Falsch.

Ich habe geschwiegen, wo ich hätte reden müssen.

Ich habe geliebt, wo ich vielleicht hätte fliehen sollen.

Und ich habe überlebt – ohne zu wissen, was und wozu.

Die Leute sagen, ich sei seltsam geworden.

Vielleicht stimmt das.

Ich bin nicht verheiratet, nicht heil, nicht jung.

Ich habe keine Kinder.

Ich lebe zurückgezogen, wenn ich nicht raus muss.

Aber ich habe eine Erinnerung.

Und nun habe ich Worte.

Im Januar kam ein Paket, ohne Absender.

Darin lag ein Notizbuch, das mir seltsam bekannt vorkam –

es war nicht meines, doch beim Aufschlagen hatte ich das Gefühl,

als hätte man mir ein Stück meiner Identität per Post zurückgeschickt.

Darunter fand ich ein zweites Buch:

ein schwarzes Tagebuch, abgegriffen, aber sorgfältig geführt.

Die Handschrift kannte ich –

oder besser: Ich erkannte sie wieder.

Ich hatte den Menschen dahinter vergessen,

1

und nun, beim Lesen der ersten Zeilen, erinnerte ich mich.

Dann waren da noch andere Dinge:

eine schwarze Tasse mit einem feinen Sprung,

ein Mercedes-Schlüsselanhänger,

ein grünes BIC-Feuerzeug.

Ich hielt jeden dieser Gegenstände länger in der Hand,

als man das normalerweise tun würde.

Etwas darin berührte mich – nicht der Gegenstand selbst,

sondern die Ahnung, dass er einmal

eine tiefere Bedeutung in meinem Leben hatte.

Etwas, das heute so verschwommen wirkte

wie Erinnerungen an die früheste Kindheit.

Und da war es wieder, dieses leise, schwere Wissen:

All das war wirklich gewesen.

Ich hatte es nur verdrängt – warum auch immer.

Schließlich fand ich die Zeitungsartikel:

vergilbt, aber ordentlich in Schutzumschlägen aufbewahrt –

‚Mord in Rotburg’

‚Brand im Barbara-Krankenhaus – mehrere Tote’

Ich war dabei.

Ich war siebzehn.

Es gab Dunkelheit – zwischen uns und um uns herum.

Doch irgendetwas hielt uns trotzdem zusammen.

Jahrelang trug ich Bilder in mir, die zu keinem Leben passten.

Träume aus anderen Zeiten, fremde Erinnerungen,

2

Lichter, Gerüche, Stimmen, die niemandem zuzuordnen waren.

Jetzt weiß ich: Jemand hat mir das Gedächtnis genommen.

Zu meinem Schutz – damit ich weiterleben konnte,

als wäre nichts gewesen.

Dass ich in diesem Zustand blieb,

war nicht meine Entscheidung.

Es war seine.

Doch Fragmente blieben.

Und mit diesen Aufzeichnungen in der Hand

ist es nun an mir, sie zu ordnen.

Also schreibe ich.

Für Jang, der kein Monster war.

Für Mickey, der mehr war als menschlich.

Für Etienne, auf den man sich immer verlassen konnte.

Für Walter, der ein Rätsel blieb.

Und für mich selbst –

bevor ich wieder vergesse, wer wir waren.

— Katja Hausmann, Herbst 2025

3

Diskusfische

Letzter Schultag

Am Mittwoch, den 12. Juli 1995, endete nach der vierten Stunde der letzte Schultag vor den großen Ferien.

Wahrscheinlich die letzten Ferien dieser Art überhaupt – zumindest für Katja Hausmann und Michael Stolz, den alle nur Mickey nannten.

Sie waren versetzt.

In die dreizehnte Klasse – und im nächsten Jahr würde alles anders sein.

Nach diesem Schuljahr würden sie sich verteilen: auf Städte, Studiengänge, andere Lebensentwürfe.

Mickey wollte Informatik auf Diplom in Bonn studieren.

Katja dachte an Germanistik, irgendwo.

Ihr Vater bestand darauf, dass sie nicht in NRW blieb.

„Am selben Ort zu bleiben, macht ‚stumpf’, sagte er.

Das klang wie ein Satz aus einem alten Brecht-Stück – wie alles, was er sagte.

Aber Katja dachte, sie würde ‚stumpf’ einem Umzug vorziehen.

Sie hatte an diesem ansonsten ereignislosen Zeugnistag schon etliche Minuten lang nur auf den Wald hinter dem Schulhof gestarrt und gehofft, dass die Zeit endlich vorüberging – nicht nur aus Langeweile, sondern wegen der Vorfreude.

Sie zählte die Stunden, als würde der Sommer erst nach diesem letzten Schultag beginnen und persönlich auf sie warten.

4

Doch ihr Sommer würde kürzer sein, als sie wünschte: ab jetzt, bis zum späten Nachmittag des 12. August.

Am 13. August begann der Familienurlaub nach Kreta – sie würden Samstag auf Sonntag nachts fliegen – und Katja graute davor.

Sie hatte sich eine Leseliste geschrieben und hob sich die wichtigsten Bücher für die zwei Wochen Kreta auf.

Bücher, um sich im Flugzeug an etwas festhalten zu können.

Aber bis dahin war sie frei.

Mickey war auch frei – nur sah seine Freiheit anders aus.

Er blieb vom Familienurlaub ausgeschlossen; sein Stiefvater wollte ihn nicht dabeihaben.

Mickey fand das gut.

Sein Verhältnis zu Dieter, seinem Stiefvater, den jüngeren Halbgeschwistern und selbst zu seiner Mutter war kompliziert.

Wie alles bei Mickey.

Aber das bedeutete auch, dass er seit gestern das Haus für sich alleine hatte.

„Kommt nach dem letzten Schultag abends bei mir rum“, hatte er am Wochenende im Fährmann, der einzig coolen Kneipe im Umkreis, gesagt – mit dieser schräg-lässigen Art, die nur er hatte.

„Nur wir. Garten. Grill. Musik.“

Katja konnte kaum stillsitzen vor Aufregung.

Die Uhr in der Klasse zählte zäh die Minuten.

Etienne. Jang. Mickey. Und sie.

Zu viert waren sie ein Hochdruckgebiet –

unruhig, aufgeladen, voller Energie, sodass es fast knisterte.

5

Eine Wetterlage, die alles veränderte, was sie einschloss.

Katja fühlte sich lebendig in ihrer Nähe.

Sie blickte vom Fenster zu Mickey hinüber.

Er saß schräg rechts von ihr.

Sie bewunderte ihn.

Alle bewunderten Mickey.

Wegen ihm fühlte sie sich anders – höher, als hätte sie Zugang zu einem Club, den andere nie betreten durften.

Ein bisschen glänzender.

Alle respektierten Mickey – und damit auch sie.

Er war mehr als schön.

Er war anders.

Wie ein Lied, das einem Schauer über den Nacken trieb.

Weißblondes, wallendes Haar, das im Sommerlicht glühte.

Honigfarbene Augen – welcher Mensch war denn bitte so?

Und diese ruhige Art, als liefe seine Zeit langsamer als die der anderen.

Sie liebte den Geruch an ihm: Patchouli, Kaugummi, Lucky Strike – und etwas Warmes, Dunkles darunter.

Im letzten Herbst, als sie noch nicht zusammen gewesen waren, hatte Katja einen Pulli von Mickey geliehen.

Sie hatte ihn immer noch, in einer Plastiktüte im Schrank, nur um daran zu riechen.

Und weil Mickey ihn nicht vermisste, hatte sie ihn behalten – als etwas von ihm, wenn er nicht da war.

Vorne redete der Klassenlehrer über das Abitur.

Hürden. Verantwortung.

6

Katja hörte kaum zu.

Mickey saß nicht neben ihr – darauf hatte Katja bestanden, weil das sonst doof aussah.

Vielleicht, vielleicht würde sie heute Abend den Mut haben, Mickey durch die Haare zu streichen.

Nur kurz. Vielleicht.

◆ ◆ ◆

Dann hatte der Klassenlehrer die Zeugnisse verteilt, die Klasse war unruhig geworden, und die Schulglocke hatte geläutet.

Katja betrachtete ihr Zeugnis, bevor sie es feinsäuberlich in eine Schutzfolie und dann in den Ordner verstauen wollte.

Zwei-komma-null im Schnitt. Sauber. Solide.

Ein bisschen mehr Schmackes in Mathe – eine Spur weniger Panik vor Gleichungen – und sie hätte eine Eins vor dem Komma gehabt.

Neben ihr stand plötzlich Mickey.

Sein Zeugnis würde, wie jedes Jahr, unordentlich in seinem Rucksack verschwinden.

Er unterschrieb überall selbst, wo eigentlich seine Eltern hätten unterschreiben sollen.

Keiner fragte nach.

Denn es war perfekt. Natürlich.

Bis auf die übliche Zwei bei Herrn Baumgärtner in Politik.

„Ich kann dir keine Eins geben, wenn ich dich nur alle paar Wochen sehe“, hatte Baumgärtner gesagt – und dann gelächelt.

Katja seufzte leise.

„Was ist los, Kat?“

7

Mickeys Stimme war weich, fast zu weich für diesen Raum voller klappernder Rucksäcke, ungerechtfertigtem Protest und aufbrandender Ferienfreude.

Sie hielt ihm das Blatt hin – ein stilles Eingeständnis, als hätte sie versagt.

„Weißt du, was mein Vater sagen wird?“, fragte sie.

„Gut?“

Er betrachtete das Zeugnis aufmerksam, dann zuckte er mit den Schultern.

„Ist doch gut.“

Katja schnaubte.

„Er wird sagen: Das hab ich nicht anders erwartet. Und dann: Mit zwei-komma-null geht da noch was. Du wolltest doch mal Ärztin werden.“

Mickey verzog leicht das Gesicht, schürzte die Lippen.

„Ist schon scheiße, nie gelobt zu werden“, sagte er – einfach so.

Ohne Drama. Ohne Blickkontakt.

Katja schwieg.

Und dachte daran, wie es bei Mickey zu Hause aussah.

Und sie schämte sich ein bisschen, weil sie das vergessen hatte.

Genau in diesem Moment mochte sie ihn noch ein bisschen mehr.

Weil er nicht weitergeredet hatte.

Weil er nicht angefangen hatte zu jammern.

Weil er einfach nur da war.

Sie wusste, dass es bei ihm zu Hause nicht rundlief.

Dass da niemand war, der ihn vermissen würde.

8

Dass es da vielleicht überhaupt niemanden gab, der ihn wirklich mochte.

Aber Mickey hatte das nie groß gesagt.

Er hatte es in seiner Art mitgeschleppt.

Und Katja verstand’s.

Grillgut

„Können wir vielleicht noch Grillzeug einkaufen?“, fragte Mickey, als sie gemeinsam die Treppe zum Schultor hinuntergingen.

„Wie ich Etienne und Jang kenne, bringen die Chips und Bier – aber das lässt sich schlecht auf den Grill schmeißen. Und ich will eine Flasche Rotwein. Für uns. Zur Feier des Tages.“

Er tänzelte die Stufen hinunter, elegant und leichtfüßig, doppelt so schnell wie Katja.

Katja holte ihr Fahrrad aus dem Keller, Susanne und Margot taten es ihr gleich.

Als sie wieder aus dem Fahrradkeller kam, ihr Rad neben sich die Rampe hochschiebend, hörte sie Thorben, Susannes sportlichen Muskelprinz, laut reden:

„Ey, wenn du den Jang siehst, sag ihm, er soll sich in Rath nicht mehr blicken lassen. Bauer Uhlmann macht ihn einen Kopf kürzer.“

Als Thorben Katja knapp hinter Margot und Susanne auftauchen sah, brach er ab.

„Na, egal …“

Dann grinste er halb und rief: „Mädels, fünf Minuten!“

Mickey stand mit seinem Rad neben Thorben – er war heute Morgen wieder zu spät für den Fahrradkeller gekommen.

9

Olli hockte irgendwo hinter Mickey, rauchte und tat unbeteiligt – natürlich war er das nicht. Katja wettete, dass er in einigem Abstand zu der Kerntruppe hinter Margot herfahren würde. Olli war nicht nur heimlich in sie verliebt. Er versuchte cool zu sein und machte sich damit bei den Mädels ein bisschen zum Affen.

„Raucherpause?“, fragte Thorben Mickey.

Mickey sah zu Katja, als ob er um Erlaubnis bat.

Sie zuckte die Schultern – klar, fünf Minuten.

Sie würde ab jetzt noch viele Stunden mit ihm verbringen – und sie hatte sich vorgenommen, dass es die besten Stunden werden mussten. Das durfte man schließlich nicht überstürzen. Den letzten richtigen Feriensommer ihres Lebens wollte sie entspannt angehen.

Susanne sah das weniger locker.

Sie bockte ihr Rad auf und verschränkte demonstrativ die Arme.

Margot tat es ihr gleich – nicht ganz so betont, nur mit einem Arm verschränkt. Die halb Beschränkten, dachte Katja und kicherte leise.

Olli tat, als wäre er mit seinem Walkman beschäftigt. Das hielt ihn natürlich davon ab, wegzufahren – obwohl er bei Thorbens und Mickeys Gespräch ja scheinbar nicht eingeladen war. Thorben überging ihn oft, was Olli ärgerte. Aber er war wegen Margot hier, und Susanne akzeptierte das — aus nur ihr bekannten Gründen.

Katja ignorierte die beiden Mädchen aus ihrer Klasse meist. Aus Erfahrung hatte man sich nicht viel zu sagen — ein paar Gespräche hier und da, die meisten davon irgendwie schiefgelaufen.

10

Sie kramte in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld. Vielleicht konnte sie noch was Süßes, Kuchen oder ein Teilchen für später besorgen – nach dem sechsten Bier wären ihr die Jungs sicher dankbar.

Da wandte sich Susanne, aus purer Langeweile, zu ihr.

„Mickey scheint seine Magenverstimmung überstanden zu haben, was?“, sagte sie mit diesem süßlich-giftigen Tonfall.

„Was habt ihr Hübschen denn so vor in den Ferien?“

Katja verdrehte innerlich die Augen. Stimmt, Mickey hatte die letzten Tage wegen einer Magenverstimmung gefehlt – hatte er zumindest erzählt. Katja wusste, dass das gelogen war. Wie sollte sie nun reagieren?

Langweilig und ihr den Triumph lassen – dass Susanne drei Wochen Spanien-All-Inclusive mit Thorben vor sich hatte?

Oder so finster, wie man’s von ihrem schwarzen Outfit und der Freundin des coolsten Typen der Schule erwartete – Kafka lesen und mit Blut Fugen schreiben?

Sie wollte es fast sagen.

Aber was kam raus?

„Wir grillen“, sagte sie.

Susanne musste fast lachen.

„Sechs Wochen grillen? Na, dann pass auf, dass du nicht fett wirst, Kat.“

Margot kicherte pflichtbewusst.

Olli lachte auch, weil Margot lachte – so war das.

Katja ließ sich nichts anmerken.

Margot schnippte: „Ja, ich würd’ auch gern mit Mickey grillen.“

Hättest du wohl gern, du dumme Nuss, dachte Katja – und fühlte sich gleichzeitig überlegen und leicht vergrätzt.

11

In dem Moment kamen Mickey und Thorben von hinter der Turnhalle zurück.

Western-Style, rauchend – Thorben wie ein Security, Mickey wie ein Rockstar.

Thorben schwang sich auf sein Rad, wünschte einen schönen Sommer, drückte Susanne einen Kuss auf die Wange.

Sie griff pflichtbewusst nach ihrem Fahrrad – stolz wie ein Reitermädchen neben ihrem Polohemd-Prinzen rauschten sie Richtung Innenstadt davon.

Margot strampelte hinterher. Olli, mit etwas Abstand – natürlich – auch.

„Da gehen sie hin – die drei bösen Zwei“, sagte Mickey.

„Plus Olli“, sagte Katja und grinste. Ihr Ärger war verflogen.

„Operation Grillzeug“, sagte sie.

„Wer zuerst beim Supermarkt auf der Hochstraße ist?“

Dann radelten sie los.

◆ ◆ ◆

Der Supermarkt war angenehm leer.

Um die Mittagszeit hatten die Nichtberufstätigen ihre Einkäufe längst erledigt, nur ein paar Leute aus der Umgebung kamen vorbei, um Kleinigkeiten zu holen.

Mickey hatte die Fleischtheke geplündert, als würden sie für fünf Tage auf ein Festival fahren.

Fleisch für zehn sehr hungrige Leute – mindestens.

„Ich mein’…“, sagte er, während er mit einer Packung Nackensteaks wedelte, „… wenn ich eh schon einkaufe, kann ich gleich für die nächsten Tage was mitnehmen. Vielleicht bleibt ja wer über Nacht.”

12

Katja lachte.

„So wie du einkaufst, könnten alle über Nacht bleiben. Und sogar bis nächsten Montag.“

„Genau das ist der Plan“, sagte Mickey und grinste.

Der Rucksack auf Mickeys Rücken war schwer, der Stoffbeutel an Katjas Lenker ebenfalls.

Sie jonglierte noch vier Puddingteilchen für den Nachtisch, und obwohl ihr Gepäckträger sein Bestes gab, würde das letzte Stück vom Fahrrad bis zum Kühlschrank noch echtes Geschleppe werden.

Haus aus Haltung

Das Architektenhaus auf der Kantstraße stand da wie ein Denkmal an sich selbst.

Dieter hatte es entworfen – natürlich.

Glas, Sichtbeton, Holzlamellen, ein steiles Giebeldach, das vermutlich irgendeine „Tradition“ zitieren sollte.

Eine Mischung aus Bauhaus und Selbstüberschätzung.

Katja fand: Es sah aus, als würde es ständig mit sich selbst angeben.

Ein Haus, das keine Wärme kannte – aber dafür Haltung. Viel zu viel davon.

An der Klingel stand: Gerber/Stolz.

Mickeys Mutter hatte den Namen ihres Mannes angenommen.

Mickey nicht.

Er war Stolz – und das meinte er in mehr als einem Sinn.

13

Dieter Gerber, Architekt, hatte das Haus nach eigenen Vorstellungen umgebaut und dabei Mickeys Wohnbereich so konzipiert, dass er vom Rest der Familie fast vollständig abgeschirmt war.

Nur wenn Mickey das Haus verließ oder zurückkam, musste er sich blicken lassen – und dann war es, als müsse er eine unsichtbare Schranke durchschreiten. Ein kurzer Spießrutenlauf: durch den makellosen Flur, unter den Blicken seiner Eltern, für die Pflicht und Distanz dasselbe waren.

Manchmal hatte Mickey Dieter absichtlich provoziert.

Wenn Katja nach der Schule mit Mickey auf sein Zimmer gegangen war, um Musik zu hören, zu reden und Computerspiele zu spielen, rief er gern laut: „Der ungeliebte Sohn ist zurück!“

Dieter war dann immer kurz vor der Explosion, nahm sich aber zusammen, sobald er Katja sah.

Katja war das peinlich, aber sie verstand Mickeys Tests.

Für Dieter hatte sie nur Abneigung übrig – und in seiner Nähe war da immer ein leises, kindisches Gefühl von Angst.

Mickey konnte auf diese Weise wenigstens etwas Dampf ablassen.

Dieter kam danach schnell wieder runter – meist, indem er Mickey einfach auswich.

Jetzt, da der ‚Gerber’-Teil der Hausbewohner im Urlaub war, weit weg, führte Mickey Katja nicht nach oben in sein Zimmer.

Er hatte den Kassettenspieler schon nach unten gebracht, und beim Grillen brauchte er sonst nichts: keinen Technikkram, keine Rollenspielbücher.

Dieter hielt das alles ohnehin für Teufelszeug – besonders die Regelwerke, die er regelmäßig im Altpapier verschwinden ließ. Seitdem spielten sie ohne Dungeon-Master-Screen. Das Player’s Handbook hatte nur noch Seiten, aber keinen Einband mehr – ein Überbleibsel eines seiner Wutanfälle.

14

„Ich hab ihm gesagt, meine Sachen zu zerstören sei kindisch“, hatte Mickey einmal erzählt. „Er ist fast implodiert.“

Dann hatte er in die Ferne geschaut, gelächelt und gesagt:

„War’s wert.“

Heute hatten Katja und Mickey zuerst in der Küche zu tun.

Mickey legte eine Kassette ein – einen Dark-Wave-Mix.

Trotz der hellen Sonne bekam die Welt plötzlich diesen melancholischen Glanz, den nur der erste Ferientag hervorbringen konnte.

Katja warf einen Blick ins Wohnzimmer.

Das Aquarium, bündig in die Vertäfelung der Wand eingelassen, wirkte leerer als sonst.

„Hattet ihr nicht mal mehr Fische?“, fragte sie.

Mickey blieb kurz stehen.

„Auch Fische leben nicht ewig“, murmelte er.

Etwas in seinem Ton ließ sie aufmerken.

„Ist was?“

„Nee“, sagte er schnell. „Lass uns in die Küche gehen.“

Er begann, die Nackensteaks auszupacken.

Sein Messer glitt ruhig, fast meditativ durch das Fleisch.

„Und … was war das eben mit Thorben und Jang?“

Katja versuchte, beiläufig zu klingen.

„Ich wollte nicht lauschen, aber man kann Thorben kaum überhören.“

Mickey schnaufte durch die Nase.

„Schon gut. Jang kommt später. Er … erzählt’s dir bestimmt selbst. Du weißt ja, Jang — Unsinn machen, damit angeben.

Aber diesmal war’s vielleicht ein bisschen zu viel.“

15

Jang und Etienne

Im Gegensatz zu Katja und Mickey begannen für Etienne heute nicht die Sommerferien. Er war in der Ausbildung zum Schreiner; im September waren zwei Jahre bei der Schreinerei Schlegel rum.

Heute war Berufsschule – also: Turnschuhe statt Stahlkappen, Etienne-Klamotten statt Schreinermontur.

Lässiger Gang, halber Ernst.

Das Fünfziger-Jahre-Klinkerhaus stand etwas abseits am Waldschulweg – eingerahmt von Brachland, Wald und einem eingezäunten Lagerhallengrundstück, das nie jemand betrat.

Das Haus hatte Etiennes Oma gehört. Jetzt gehörte es ihm.

Hausbesitzer. Fast erwachsen. Allein.

Jang hing wohl schon eine Weile am Waldschulweg herum.

Er schlenderte Etiennes Golf entgegen, als dieser auf den Schotterweg zur Auffahrt einbog.

Kaum dass Etienne den Wagen auf seinem Stammplatz vor der Garage abgestellt hatte und ausgestiegen war, wehte ihm ein fürchterlicher Gestank entgegen.

„Boah, Jang“, sagte Etienne, „du riechst, als wärst du aus ’nem Schweinestall gekrochen.“

Jang grinste schief.

Etienne hob abwehrend die Hand. „Bleib mir bloß auf Abstand.“

16

„Stell dich nicht so an, Ente. Ich hatte keine Möglichkeit zu duschen. Wollte fragen, ob ich deine Waschmaschine benutzen darf. Sonst muss ich wohl bei Mickey waschen.“

Etienne stöhnte. Ente — das hörte er nicht gerne.

„Hör mal, du Vogel – normale Menschen arbeiten oder gehen zur Schule. Nur Jan Grasner beginnt den Tag in der Güllegrube. Eins steht jedenfalls fest: So kommst du mir nicht ins Auto.“

Etienne legte den Flur mit alten Zeitungen aus und lotste Jang dann ins Haus.

Jang musste peinlich genau darauf achten, nichts anzufassen.

„Lass die Sachen hier, geh am besten gleich duschen. Ich find irgendwo was zum Anziehen“, sagte Etienne.

Im Keller wühlte er sich durch alte Kleiderkisten.

Er fand eine graue Jogginghose, Tennissocken und ein T-Shirt mit „Miami – Florida“-Schriftzug, das ihm zu klein geworden war – für den schmächtigen Jang aber eher wie ein kurzes Kleid wirkte.

Nun. Er hatte nichts anderes, das passen würde.

Als Jang protestierte, sagte Etienne: „Ey, willst du lieber was von meiner Oma?“

Jang setzte daraufhin eine überdrehte Frauenstimme auf:

„Glaubst du, das steht mir, Schatzi?“

Etienne lachte und boxte ihm in den Oberarm.

„Ich wasch deine Sachen bei sechzig Grad. Bis morgen sind die trocken. Bei dem Wetter sowieso.“

„Ja, Mama“, sagte Jang, zog sich bis auf die Unterhose aus und verschwand mit den Sachen die Treppe hinauf ins große Bad.

Die Tür knallte hinter ihm zu.

17

Etienne hörte, wie Wasser in die Badewanne einlief.

Badewanne? Ein Bad – jetzt?

Er verdrehte die Augen.

„Mann, ich dachte, du duschst mal eben hier unten, im Gästebad!

Das dauert sonst wieder so lang. Dann können wir uns den Einkauf auch sparen. Sonst sind wir um sechs noch nicht bei Mickey – und ich hab Kohldampf.“

„Der Dreck muss eingeweicht werden, da hilft Duschen leider nicht!“ rief Jang durch die Badezimmertür.

„Du hast doch sicher noch Bier und Chips? — Und ich hab was Feines besorgt. Wird lustig.“

Etienne hörte das nur mit einem halbem Ohr hin.

Jang und ‚was Feines’ – das konnte alles heißen.

Meistens aber nichts Gutes.

Wahrscheinlich Gras.

Hoffentlich nur das.

Bei Jang sollte man zuerst an Pferd denken, wenn man Hufgetrappel hörte – aber meistens war’s dann doch ein Esel.

Und trotzdem: Jang war cool, aber laut eigener Aussage ein Pech-, kein Glückspilz.

Wenn irgendwo ein Festival war, war Jang mittendrin – blutige Nase, scheißegal.

Er kletterte auf Laternen, fuhr Skateboard und hatte ein Hirn voller obskurer Bücher, die er, so behauptete er, bei Vollmond las.

Er kiffte und rauchte zu viel.

Und ja – Etienne mochte ihn.

18

Mehr als das. Er war wie ein kleiner Bruder.

Er hatte ihn beschützt, seit sie sich in der Hauptschule kennengelernt hatten.

Zwei Jahre jünger, schmächtig, unüberlegt, aber mit Schalk im Nacken.

Manchmal dachte Etienne: Mickey und Katja waren die Eltern im Freundeskreis.

Er war der große Sohn.

Und Jang war … der Wechselbalg.

Jang sang oben in der Badewanne.

Er hatte eine schöne Stimme – nicht sein einziges Talent, aber er war bisher nie in der Lage gewesen, daraus etwas brauchbares zu machen.

Um halb sechs war Jang sauber und roch nach Minze.

Er schnüffelte an sich, warf sich gleichzeitig ein Kaugummi ein und sagte:

„Minze, Minze, Minze …“

Etienne hatte nun keine Bedenken mehr, dass Jang seine heiligen Sportsitze verunreinigen würde.

Sie waren startklar.

Die Sonne knallte.

Das Auto roch nach staubigem Sommer, Axe, Wunderbaum – und Minze.

◆ ◆ ◆

Sie fuhren los.

Zehn Kilometer – vom Waldschulweg bis zum Philosophenviertel, quer durch Rotburg.

19

„Wie ist eigentlich dein Gespräch in dem Dönerladen mit der Regina gelaufen?“, fragte Jang unterwegs.

„Die Jakob?“

„Ja, die mit der Zwillingsschwester.“

„Die versteht keinen Spaß“, meinte Etienne und verzog das Gesicht.

„Ich war etwas übermütig. Hab im Spaß vorgeschlagen, eine Verabredung mit beiden, also plus ihrer Schwester, wär doch auch nett.“

Er pausierte und klang selbst erstaunt. „Dann war Fratze.“

„Mensch, Etienne – das ist nicht deine Liga, Junge. So redet man nicht mit Frauen.“

Jang klang, als hätte er da voll die Ahnung.

Etienne schnaubte, leicht vergrätzt: „Ach ja? Und du weißt, wie man mit Frauen redet?“

„Joah.“

Mehr kam nicht.

Kurz breitete sich Stille zwischen ihnen aus.

„Jetzt sag schon – hat das was mit dem Schweinestallgeruch vorhin zu tun?“ fragte Etienne, als sie an der nächsten Ampel hielten.

„Ein Gentleman genießt und schweigt“, sagte Jang gespielt großkotzig.

Etienne verdrehte die Augen.

„So ein Quatsch. Du willst nur deine Story später vor größerem Publikum erzählen.“

20

◆ ◆ ◆

Sie waren fast da.

Etienne bog mit seinem gewohnten, leicht übertrieben sportlichen Fahrstil in die Kantstraße ein.

Nach zweihundert Metern lag Mickeys Elternhaus auf der rechten Seite.

„War lang nicht mehr hier“, sagte Jang.„Letztes Mal haben die noch das Dach neu gedeckt.“

„Das war vor fünf Jahren – da war Mickey dreizehn“, sagte Etienne.

„So lang ist das her?“ Jang grinste. „Da hat mich Dieter Gerber fast gevierteilt, weil ich an seinem Whisky war.“

Etienne grinste mit. „War ein guter Whisky.“

Sie stiegen aus.

Das Gartentor war nur angelehnt.

Sie gingen direkt durch in den Garten: ein Teich, eine Hängematte, ein Gartenhaus.

Blühende Stauden, alte Bäume, der Geruch von Sommer.

Wie im Bilderbuch, dachte Jang.

Sommernacht im Garten

Der Grill zischte.

Fett tropfte ins Feuer, es roch nach Holzkohle, Kotelett – und Sommerabend.

Etienne stand mit der Grillzange am Rost.

Auf dem Schrägdach des Gartenhäuschens balancierte eine Hansa-Dose, windschief aber treu.

21

„Nicht umkippen, ey“, hatte er zu ihr gesagt.

Die Dose hielt Wort.

Er legte eine Glockenpaprika in die kühle Ecke des Rosts, wo die Hitze nicht alles sofort verkokelte – Glockenpaprika war Katjas Idee. Er wäre da nie drauf gekommen. — Weniger Platz für Fleisch.

Neben ihm stand Mickey, weißblondes Haar, schwarzes Shirt, barfuß auf dem Steinboden.

Er legte eine neue Kassette in den Rekorder, ein selbst zusammengestellter Mix aus seinem Gothic-Fundus.

Bela Lugosi’s Dead knisterte in die sinkende Hitze des Tages — langsam, wie ein Schatten, der sich über die Wiese legte.

Katja saß auf dem Gartenstuhl mit Rückenlehne, ein Becher Rotwein in der Hand – nicht billig, sondern gut, von Mickey ausgesucht.

Jang lag in der Hängematte, Zigarette im Mundwinkel, die Socken schon längst irgendwo im Gras.

Er trug Etiennes Notfallgarderobe – und sah damit aus wie der rebellische Sohn einer Tennismutter.

„Mensch, das ist wie in ’nem Traum“, murmelte er.

„Nur dass ich diesmal nicht irgendwo runterfalle.“

„Noch nicht“, sagte Etienne.

„Der Abend ist jung.“

Später flutete Clan of Xymox – A Day durch den Garten.

Der Himmel wurde violett, die Schatten tiefer.

„Ich glaub, das hier wird mal ’ne Erinnerung“, sagte Jang leise.

Katja nickte.

„Ist es schon.“

22

Es wurde getanzt – nicht wild, nicht wie auf Partys von ‚Normalen’.

Aber sie bewegten sich. Beinahe rituell.

Es fühlte sich an, als wäre der Garten eine Bühne – und sie die letzten Menschen, die noch tanzen.

Jang drehte sich mit ausgebreiteten Armen über die Terrasse, schwenkte die Zigarette wie einen Zauberstab und malte Glühbilder in die laue, frühe Nachtluft.

„Ich fordere eine Initiation, zu Ehren der alten Götter! Ich brauche Salz, schwarze Kerzen – und ’ne verdammte Krähe auf der Schulter!“

Mickey lachte leise.

„Du bekommst ’ne Scheibe Fleisch und Helau-Ketchup. Muss reichen für den Anfang.“

Als der Abend zur Nacht wurde und Dead Can Dance durch die Lautsprecher Bilder von fremden Welten beschwor, lagen sie auf Decken – halb betrunken, halb verzaubert.

Glühwürmchen flogen vorbei.

Katja wünschte sich etwas – sagte aber nicht, was.

In der Nähe zirpten Grillen.

Etienne hatte gerade wieder einen Spruch über die Jakob-Zwillinge gemacht, als Jang plötzlich unruhig wurde.

„Etienne hat das mit den Jakob-Zwillingen wieder vermasselt“, sagte er und es sollte irgendwie scherzhaft klingen, tat es aber nicht. Es war völlig unpassend.

„Aber wisst ihr was …“

Er hielt inne.

Alle sahen ihn an.

„Ich hab was ganz anderes vermasselt.“

23

Der Satz blieb kurz in der Luft hängen – zwischen Grillrauch und Glühwürmchen.

Dann schlug sein Ton plötzlich um, von überdreht zu ernst. Zu ernst.

Mickey, Katja und Etienne setzten sich wie synchronisiert auf.

Etienne war der Erste, der den Mund aufbekam.

„Wie bitte?“

Sie hatten es Jang nie direkt gesagt, aber alle waren froh gewesen, dass er endlich etwas gefunden hatte: das Sozialprojekt mit dem Bauernhof.

Ein Platz zum Schlafen. Arbeit. Perspektive.

Katja spürte plötzlich, woher das Wort ernüchtert kam. Das Bier wirkte nicht mehr wie vorher.

Jang starrte in die Glut des Grills.

„Alles okay … gebt mir ’ne Sekunde“, sagte er heiser.

„Kaffee?“, fragte Mickey.

Jang grinste, wie man schweren Herzens grinst, und kaute auf seinem Daumennagel – wie immer, wenn er nervös war.

Etienne blieb bei Jang sitzen, beobachtete ihn und schwieg – eine Dose Bier in der Hand.

Mickey stand auf und machte Kaffee.

Wie man es eben macht, wenn Kaffeethemen auf den Tisch kommen. Katja ging mit in die Küche.

„Weißt du, was los ist?“, fragte sie Mickey leise, wegen dem, was Thorben vor der Schule gesagt hatte.

Er schüttelte den Kopf. „Thorben hat eigentlich nur erzählt, dass der Holger Uhlmann Jang im Moment nicht zu Gesicht bekommen sollte, warum das hat er nicht wirklich gesagt, nur angedeutet.”

24

Auf dem Küchentisch lagen die Puddingteilchen.

Katja packte sie wortlos aus.

Jetzt war der Moment für Kuchen.

Und für alles, was man sonst nicht sagen konnte.

Augen zu und durch

Draußen saß Jang auf einer der Wolldecken, die Beine angezogen, den Daumennagel im Mund.

Er sah plötzlich viel müder aus als vorher.

„Tschuldigung“, sagte er, als sie zurückkamen. „Ich hab seit vorgestern kaum geschlafen. Ich glaub, ich merk’s jetzt erst – dass das wirklich passiert ist.”

Sie setzten sich um die verglimmende Glut, und Jang begann zu erzählen:

„Bauer Uhlmann ist ein Arsch. Aber fair.

Seine Frau – dumm wie Brot.

Sein Sohn – ein Arsch, aber unfair.

Und seine Tochter …“

Er stockte.

Sah kurz in die Runde, als hoffe er, jemand würde ihm die Worte abnehmen.

Niemand konnte das.

„Florence —

Hat Gras bei mir gefunden – Nachttischschublade, ganz blöd von mir.

Ich hätt’s nicht da lassen dürfen …

25

Scheiße. Ich hätt einfach aufpassen müssen.

Ich bin manchmal so dumm. Keine Ahnung.

Jedenfalls kam sie in mein Zimmer.

Sie hat gesagt: ‚Wenn du das nicht machst, sag ich’s meinen Eltern.‘

Also hab ich’s gemacht. Augen zu und durch.

War … na ja. Nicht schlimm. Also nicht körperlich.

Hat nicht wehgetan, nur …“

Er verstummte. Atmete hörbar aus.

„… war halt scheiße.”

Etienne starrte in die Glut, die kaum noch glomm. Jang fuhr fort, wild gestikulierend:

„Aber Florence war halt ziemlich blöd. Ihr Bruder war ihr gefolgt und hat uns gesehen.

Ich hatte keine Chance.

Sie hat gebrüllt, ich wär der Schuldige.

Dann kam der Alte … und ihr Bruder — sogar ihr Onkel — …

Und ich – ich bin nur noch gerannt.

Quer über den Hof, sogar durch den beschissenen Schweinestall.

Und mein Skateboard ist auch weg.“

Lange sagte niemand etwas.

Man hörte das Bandende der Kassette klicken.

Mickey schaltete das Gerät aus.

Katja reichte Jang das Puddingteilchen.

Er nahm es, sagte „Danke“ – und biss nicht rein.

26

Im Garten war es still geworden.

Die Grillglut war erloschen, der Himmel tiefschwarz.

Die Luft trug das Gewicht des Weins, des Biers, der Joints – und all der unausgesprochenen Dinge, die manchmal auf den Seelen von Freunden liegen.

Jang saß zusammengesunken auf der Decke, das Teilchen in der Hand, unberührt.

Etienne stand neben ihm, den Blick auf den dunklen Rasen gerichtet.

„Du kannst bei mir pennen“, sagte er ruhig.

„Solange du willst.“

Jang hob den Kopf nicht, aber seine Schultern zuckten kurz.

Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Nase.

Das war Antwort genug.

Dann biss er doch in das Puddingteilchen.

Danach hatten sie eine Weile zusammengesessen. Die bedrückte Stimmung war geblieben, aber die Müdigkeit holte nun alle langsam ein.

Jang wirkte betrunken – oder einfach nur leer. Vielleicht beides.

Die Uhr zeigte schon kurz vor halb zwei, als Mickey beschloss, Katja nach Hause zu bringen. Er sagte Etienne, er wäre in einer halben Stunde zurück, was vom Philosophenviertel zu Katjas Elternhaus mit jeweils 10 Minuten Fußweg hin und zurück, realistisch war.

27

Julimond

Mickey und Katja gingen schweigend durch die laue Sommernacht. Nach zehn Minuten Fußweg waren sie fast bei Katjas Haus angekommen.

Sie liefen nebeneinander her, ihre Schatten tanzten auf dem Bürgersteig.

„Meine Eltern sind nicht da“, sagte Katja irgendwann. „Konferenz in Genf. Bis Freitagmorgen.“

Mickey nickte.

„Allein in der Hausmann-Villa. Klingt fast zu ‚goth’, um wahr zu sein.“

Katja grinste.

„Ist es auch.“

Vor dem schmiedeeisernen Tor blieben sie stehen.

Die Villa lag ruhig da, eingebettet in Rosenhecken und Ordnung.

Fensterläden geschlossen, das Licht der Laternen fiel auf Kieselweg und Briefkasten.

Der Vollmond hing wie ein Silberteller über dem Viertel.

Ein paar dünne Wolken zogen vorbei.

Irgendwo schrie ein Kauz.

Katja fröstelte – nicht vor Kälte, sondern vor diesem stillen, schönen Ernst des Augenblicks.

Mickey trat näher an sie heran.

Langsam, als wollte er den Zauber nicht stören.

Und dann küsste er sie.

Es war kein schneller, jugendlicher Kuss.

28

Es war ein Kuss wie ein Versprechen.

Wie ein Schwur, der nichts sagte – und doch alles bedeutete.

Der Moment dehnte sich.

„Ich wollte das“, sagte sie leise. „Schon so lange.“

Mickey sah sie an, und seine Augen waren wie Spiegel, in denen die Nacht etwas Vertrautes zeigte.

Sie standen noch eine Weile da – ergriffen, verzaubert.

Dann verabschiedete er sich.

Er fragte, ob er sie hineinbringen solle, ob sie Schlüssel und alles habe.

Katja nickte.

Sie sagte, sie wolle ihm noch kurz hinterher schauen.

Er ging.

Elegant, eindrucksvoll, schweigend.

Er blickte nur ein einziges Mal zurück, als er fast aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.

Dieser Moment ließ Katjas Herz noch einmal hüpfen.

Sie sah ihm nach, bis er zwischen den Hecken verschwand.

Dann blieb sie dort stehen – unter dem Julimond.

◆ ◆ ◆

Und plötzlich war er da.

Ein älterer Mann. Einfach da.

Keine Schritte. Kein Rascheln.

Da – wie eine Spinne an der Wand.

Katja zuckte zusammen.

29

Er war groß. Breit in den Schultern, aber mit der Haltung eines Mannes, der sich seiner Wirkung bewusst war.

Seine Präsenz war ruhig, fast würdevoll – nur, dass sie keine Ruhe brachte.

Ein Geruch hing in der Luft.

Nicht stark, eher wie ein Nachhall:

Sandelholz, trocken und warm, mit einem Schimmer von Amber darunter – süß, aber alt.

Wie ein Räuchergefäß, das Jahrhunderte benutzt worden war.

Etwas daran war tröstlich, fast feierlich.

Und doch machte es sie benommen, ein wenig überdreht.

Es erzeugte Gedanken, die man nicht zu Ende denken durfte.

Es war kein Parfüm – eher etwas, das von ihm selbst auszugehen schien, etwas, das er hervorbrachte.

Das weißblonde Haar im Nacken zusammengebunden, leicht zerzaust – nicht nachlässig, eher wie von Bewegung gezeichnet.

So, wie man sich Mozart nach einem Konzert vorstellt – erschöpft, aber makellos.

Der Mantel dunkel, schwer, geschneidert nach altmodischem, aber sehr teurem Geschmack.

Das Gesicht des Mannes war aristokratisch und fast übertrieben schön.

Etwas an ihm erinnerte sie an … etwas.

Nicht klar. Kein Ort, kein Name.

Eher ein Gefühl, das aufblitzte und gleich wieder erlosch.

Ein Bild, ein Blick, eine Farbe vielleicht – Weiß neben Karmesin, ein Schatten von Gold.

30

Wie aus einer anderen Zeit, in einem Raum, in dem sie einmal gestanden hatte.

Sie spürte, dass sie ihn kannte, ohne zu wissen, woher.

Und wenn sie glaubte einen Anhaltspunkt zu haben, entglitt der Gedanke ihr sofort wieder,

wie eine Erinnerung, die sich weigert, Form anzunehmen.

Sie hatte so etwas schon einmal gesehen.

Irgendwo. War aber egal jetzt.

Dann sah sie ihm direkt in die Augen.

Was sie jetzt sah war auch unklar, die Erinnerung durfte ihr nicht gehören.

Wie ein Traum, der sich beim Aufwachen auflöst.

Was war mit seinen Augen?

Sie wusste es nicht. Nur, dass sie nicht noch einmal hinschauen wollte.

Er neigte den Kopf, als hätte er sie erkannt.

Und als er sprach, war seine Stimme warm wie ein heißes Bad, in das man mit müden Knochen sinkt –

und doch ergab das, was er sagte, für sie keinen Sinn:

„Die Pyramiden … waren nicht immer so, wie sie heute sind, junge Dame“, hatte er gesagt – seine Stimme so samtweich und einladend, dass sie sich wünschte, er würde weiterreden. Doch das war alles, was der Mann sagte.

Kurz darauf nickte er, wandte sich ab und ging die Doktor-Karl-Hirschberg-Straße hinauf, Richtung Innenstadt.

Ruhig, gelassen, als wäre es eine gewöhnliche Nacht in einer gewöhnlichen Welt.

Katja blieb stehen.

31

Schmeckte noch Mickeys Kuss auf den Lippen.

Und spürte die Gänsehaut auf ihren Armen – die nicht vom Nachtwind kam.

Bekenntnis

Etienne und Jang waren schon aufgebrochen.

Mickey hatte sie verpasst.

Auf dem Küchentisch lag ein Einkaufszettel, auf dessen Rückseite Etienne mit krakeliger Handschrift eine Nachricht hinterlassen hatte.

Mit Kugelschreiber – leicht verschmiert vom Grillfett.

„War echt toll heute Abend, aber Jang hat sich gerade übergeben und ich bring ihn zu mir ins Bett.

Wir sehen uns spätestens am Samstag im Fährmann.

Ich bin froh, so tolle Freunde zu haben.

P.S.: Grüß Katja.

Ach ja, ich bin übrigens morgen erst ab 18 Uhr erreichbar – Arbeit und so.

Jang vergisst das immer…

– Etienne”

Mickey musste schmunzeln.

Er faltete den Zettel zusammen, steckte ihn in die Hosentasche.

Etienne war ein Fels.

Ein verdammter, unbequemer, ehrlicher Fels.

Dann ging er zum Kühlschrank, holte sich noch eine Dose Bier, öffnete sie mit einem zischenden Klack und lehnte sich an die Arbeitsplatte.

Ich hab Katja geküsst.

32

Der Gedanke saß wie ein Tattoo in seinem Kopf.

Tief. Schwarz. Wunderschön.

Und gefährlich.

„Werde ich nicht vergessen“, murmelte er.

Dann wurde sein Blick leer.

Florence. Jang. Der Bauernhof.

Florence hat Jang vergewaltigt. Und dann verraten.

Was macht man da?

Jang war kein Lügner. Nicht bei sowas.

Er schmückte aus. Aber sowas … das dachte er sich nicht aus.

Mensch, Jang …

Katja war auch einsam.

Er hatte es gespürt. Nicht nur im Kuss – schon vorher.

In ihren Blicken, in der Art, wie sie manchmal mitten im Gespräch abbrach und einfach nur da war.

Und Etienne – schlug sich durch. Zäh. Stur. Optimistisch. Bewundernswert.

Und ich?, dachte Mickey. Was bin ich?

Er trank. Langsam.

Aber mit jedem Schluck wurde das Bier schaler.

Nicht im Geschmack – in seinem Mund.

Ich hab die Diskusfische gegessen.

Drei Stück. Im Dunkeln. Direkt aus dem Aquarium.

Letzte Woche.

Ich war hungrig. Und sie waren da.

Dann war da diese Maus. Noch lebendig. Zitternd. Warm.

33

Die Nachbarskatze hatte sie gebracht.

Und er … er hatte sie genommen.

Ich hab sie gegessen. Ganz. Noch zuckend.

Und danach … war er satt gewesen.

Nicht zufrieden. Nicht gefüllt.

Satt. Bis in die Knochen.

Weil sie noch lebendig gewesen war.

Mickey starrte auf die kaputte Küchenfliese unter seinen Füßen.

Ein feiner Riss zog sich durch.

Ich werd dieser IT-Kerl, der irgendwann deinen Hund frisst.

Er lachte. Leise.

Kein Humor.

Nur ein Echo von dem, was in ihm knisterte wie altes Feuerholz.

34